E-Bike-Reisen von Belvelo

Über den Atlas in die Sahara zum Atlantik

Mit dem E- Bike durch Marokko

Reisebericht von Roland Motz

„Yalah, yalah“, treibt uns Mohamed die letzten Passmeter hinauf, die wir uns weniger anstrengend vorgestellt haben. Immerhin sind wir ja motorisiert unterwegs. Ob wir die Trethilfen überhaupt benutzen würden, haben wir auf der Hinfahrt im Kleinbus vor unserem marokkanischen Guide großspurig infrage gestellt. Aber da fuhren wir auch noch von Marrakech aus durch eine flache Ebene, sahen in den reichen Villenvororten südlich der von einer Lehmmauer umschlossenen magischen Stadt das Gras unter der Sprinkleranlage vor sich hingrünen und erst ganz weit dahinter schneebedeckte Berge im Morgendunst auftauchen.

Fast übergangslos sind wir in das karge, nahezu unbesiedelte und vor allem sehr steile Gebirge geraten. Ein größerer Kontrast als der zwischen dem quirligen, bunten, märchenhaften Treiben auf dem Djamáa el Fna, dem berühmten Platz der Geköpften in Marrakech, und der absoluten Ruhe im lehmgraubraunen, vegetationslosen Hohen Atlas ist kaum denkbar. Spektakulär, aber quälend lange sind die Aufstiege über die Serpentinen. Noch spektakulärer und rauschhaft schnell hingegen geht es bergab. So macht es Sinn, dass die Routenplaner von Belvelo uns mit dem Begleitfahrzeug viele Aufstiege ersparen und uns dafür umso mehr grandiose kilometerlange Serpentinenabfahrten im Gebirge ermöglichen. Unsere erste führt kurz hinter dem Tichka Pass auf 2268 m Höhe hinunter nach Telouet inmitten einer bizarren Bergwelt. Wie eine Fata Morgana tauchen die zinnenbewehrten Burgruinen der alten Berbersiedlung in 1870 m Höhe auf. Leider zeigt der marokkanische Staat kein Interesse daran, den ehemaligen Herrschaftssitz des mächtigen Berberfürsten El Glaoui zu erhalten. Der Pascha hatte sich während des Protektorats mit den Franzosen verbündet. So steigen wir mit großem Bedauern durch die stark dem Verfall preisgegebenen stuckverzierten Prunkräume im maurischen Stil, bewundern die buntbemalten Zedernholzdecken im Harem und schauen von den bröckelnden Wehrtürmen zurück auf die Berge, aus denen wir gekommen sind. Erst unterhalb der Kasbah wird das Gelände flacher. Gemächlich folgen wir einer kaum befahrenen Straße durch das fruchtbare Ounila Tal. An zahlreichen Kasbahs und Dattelpalmenhainen vorbei radeln wir gegen Abend direkt zu einem mit viel Liebe zum Detail renovierten alten Berberpalast. Das von hohen Lehmmauern umgebene Hotel Ksar Ighnda erscheint uns wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Mittlerweile sind viele der ehemaligen, aus Stampflehm errichteten Burgen von privaten Investoren aufgekauft und stilvoll restauriert worden und werden seitdem als teure Unterkunftsmöglichkeiten für Touristen genutzt.

In Reiseführern wird häufig vor zu vielen Leihwagen und Bussen gewarnt. Von alledem bekommen wir nichts mit. Das hat ein bisschen mit unserem Reisedatum Anfang Dezember, weit mehr aber mit der genialen Streckenführung auf schmalen nahezu autofreien, aber durchweg asphaltierten Straßen zu tun, an deren Ausarbeitung auch Mohamed beteiligt war. Weil wir links der Draa, die sich als blaubraunes Band zwischen kargen Gebirgsstöcken nach Süden windet, auf winzigen Sträßchen durch kleine Beduinendörfer unterwegs sind und nicht der größeren Hauptstraße auf der anderen Flussseite folgen, haben wir am vierten Radtag sogar die vielbesungene Straße der Kasbas ganz für uns allein. In jedem Dorf stehen winkende Kinder am Straßenrand. Viele halten die Hand raus, aber nicht um zu betteln, wie wir anfangs irrtümlich glaubten, sondern um uns abzuklatschen. Lehmburg an Lehmburg reiht sich aneinander, eine grandioser als die andere, alle in unterschiedlichen Stadien des Verfalls, dazwischen ein dunkelgrünes Meer aus Dattelpalmen. Absoluter Höhepunkt ist das Weltkulturerbe Ait Benhaddou, ein auf einem Hügel aus Stampflehm errichtetes Ksar. Das befestigte Wehrdorf diente als Drehort zahlreicher Filme von Lawrence von Arabien bis Game of Thrones. Über Trittsteine queren wir den nur wenig Wasser führenden Oued Mellah, den salzigen Fluss, durchschreiten ein halbverfallenes Lehmtor, um uns alsbald im Labyrinth der Gassen, Gänge und Treppen zwischen den eng ineinander verschachtelten Häusern zu verlieren. Mittlerweile wohnen auch wieder Familien in Ait Benhaddou. Alte Lehmbauten wurden renoviert und sogar erste Privatunterkünfte für Touristen sind in dem surrealistisch anmutenden Gesamtensemble entstanden.

Regen, der auf Wüstensand fällt

Langsam verlassen wir das Gebirge mit seinen spektakulären Landschaften, die hinter jeder Serpentinenkurve in einem anderen Rotton aufwarten. Das Gelände wird flacher und grauer. Einige wenige Bauern versuchen der steinigen Erde zwischen dornigen Akazienbüschen in den immer seltener und trockener werdenden Oasen Feldfrüchte abzugewinnen. Wir nähern uns der Wüste. Sand- und Steinböden wechseln sich ab. Die Grautöne werden von ockerstichigem Gelb abgelöst. Über die Garnisonsstadt Tazzarine erreichen wir Zagora. Die Oasensiedlung ganz in der Nähe zu der umstrittenen Grenze mit Algerien ist das Eingangstor zur Sahara. Natürlich lassen auch wir uns das Fotoshooting vor dem berühmten Karawanen Wegweiser nach Timbuktu nicht entgehen: „Tombouctou 52 Jours“. Aber auf dem Weg in die Sahara schwindeln wir ganz schön. Keine endlosen zweiundfünfzig Kameltage liegen vor uns. Stattdessen gerade einmal fünfundfünfzig Kilometer mit dem Bus auf einer gut asphaltierten Straße, bevor wir dann doch noch auf Kamele steigen. Eine Stunde später liegen wir staunend auf Teppichen vor den Zelten im Tizi Deluxe Camp im Wüstensand und trinken Tee.

Allerdings nur kurz. Die Sonne senkt sich bereits und Mohamed drängt. Mit dem marokkanischen Sprichwort „ein Mensch in Eile ist schon tot“ hat unser Guide in Marrakech anfangs falsche Assoziationen großen Müßiggangs während der Tour geweckt. Jetzt heißt es schon wieder „yalah, yalah“. Und besonders motivierend schiebt Mohamed süffisant hinterher: „Das lahmste Kamel bestimmt das Tempo der Karawane“. Der schnelle, anstrengende Aufstieg im Wüstensand auf die Dünenkämme, die das Camp halbkreisförmig umschließen, wird nicht durch den erhofften Bilderbuchsonnenuntergang entgolten. Stattdessen schieben sich dunkle Wolkenbänke vor die abtauchende Sonne. Kein Himmel über der Wüste. Am Lagerfeuer singen unsere Gastgeber alte Beduinenlieder, bis wir uns zum Schlafen in die luxuriösen Zelte zurückziehen. Am nächsten Morgen regnet es – in der Sahara! Unter Regenbögen reiten wir zurück zu den Rädern an der Straße. Während einige dabei sind, Regenklamotten überzuziehen, setzt sich die Sonne doch noch durch und ermöglicht eine trockene, etwas eintönige Fahrt durch die Wüste bis nach Foum Zguid. Der Militärstützpunkt am Fuße des Djabal Bani scheint direkt einem alten Western entsprungen zu sein.

Kältekammer Antiatlas und hoher Atlas

Langsam haben wir die Mühen der Ebene in der Sahara satt. Kerzengerade Straßen durch Sand, Schotter, Steine. Dazwischen ein paar halbvertrocknete Akazienbüsche, dann wieder dasselbe Programm von vorne; Dornenbüsche, Steine, Schotter, Sand. Der Bus bringt uns nach Tata. Sattgrüne Dattelpalmenhaine umschließen den gesamten Ort. Hinter der fruchtbaren Oasenstadt geht es mit dem Rad weiter in die Berge. Der Antiatlas ist nicht so hoch und steil wie der Atlas, dafür umso kälter. Dick in ihre Kapuzenmäntel vermummte Gestalten bewegen sich zwischen Hühnern, Schafen, Ziegen, Gewürzen, Nüssen und Gemüse aller Art auf dem Markt in Irherm Oualqadi. Die Frauen tragen unter der Djellabah den Chech, den blauen oder schwarzen Gesichtsschleier. Zumindest jetzt Anfang Dezember wird es nach Sonnenuntergang empfindlich kalt im Gebirge. So sind wir froh, am nächsten Morgen den Antiatlas auf langen, absolut einsamen Abfahrten hinunter zum Qued Sous zu verlassen. Die Sous Ebene empfängt uns mit Orangen- und Zitronengärten, die von Kakteenhecken geschützt werden. Unser Tagesziel heißt Taroudannt. Die vollständig von einer gewaltigen Lehmmauer umgebene quirlige Stadt mit der bestens erhaltenen Medina ist das landwirtschaftliche Zentrum der gesamten Region.

Noch einmal müssen wir hinauf in den Hohen Atlas. Mit dem Bus verlassen wir die Zitronenhaine des wunderschönen Hotels Dar Zitoune und damit auch die Wärme der Ebene. Beim Aufstieg zum Bergdorf Imouzzer Ida Outanane werden wir mit den Rädern noch einmal richtig gefordert. Verschwitzt und verfroren zugleich erreichen wir spätnachmittags das Berghotel Les Cascades in immerhin 1600 m Höhe. Niemand kommt auf die Idee, den verwunschenen Pool zu benutzen. Stattdessen radeln einige zum Markt, um noch schnell ein paar Handschuhe zu besorgen. Ziegen, Rinderhälften, Datteln, Pistazien, Gewürze ohne Ende sind im Angebot, aber keine Handschuhe. So müssen es für den Rest der Tour über die Fahrradhandschuhe gezogene Strümpfe richten. Wie im Skiurlaub sitzen wir abends frisch geduscht in Fleecejacken vor dem Kaminfeuer, bevor wir uns erschöpft in die zugigen Zimmer zurückziehen.

Die letzte Radetappe ist ein Kinderspiel. Am frühen Morgen geht es in wilden Abfahrten durch die grandiosen Canyons des Vallée du Paradis Richtung Atlantik. Dann noch ein überraschender kurzer Anstieg, bevor sich der Blick öffnet und wir den Ozean zwar noch nicht sehen, aber schon riechen können. An einem kleinen Stausee verladen wir die E-Bikes, die uns über eine Woche gute Dienste geleistet haben, und steigen in den Bus. Zwei Stunden später erreichen wir den Fischerort Essaouira am Atlantik. In der zum Weltkulturerbe erklärten Medina heißt es abends Abschied nehmen von Mohamed. „Yalah, yalah“, ruft er uns spaßeshalber noch einmal hinterher, bis zum nächsten Mal, inschallah. „Ja klar, aber beim nächsten Mal drei Wochen früher“, denken wir – die verspielten, von uns ungenutzten Hotelpools vor Augen und die Restkälte aus dem Atlas noch in den Knochen.